Infektionsschutzgesetz | | Nr. 140/21
TOP 1: In den Anstrengungen nicht nachlassen und Vorbild sein
Es gilt das gesprochene Wort!
Herr Präsident,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
bei einer Inzidenz von über 100 muss die Notbremse gezogen werden, das war der kleinste gemeinsame Nenner in den Bund-Länder-Verhandlungen am 22. März.
Angela Merkel wollte schon damals mehr, nämlich verbindlichere und strengere Regeln. Die Bundeskanzlerin hat während der gesamten Pandemie immer dafür plädiert, bei steigenden Infektionszahlen möglichst schnell mit harten Maßnahmen einzugreifen.
Das war zu Beginn der zweiten Welle letzten Oktober so. Auch damals wurde die Kanzlerin von den Ministerpräsidenten gestoppt.
Heraus kam der „Lockdown light“, der überhaupt nichts gebracht hat, außer den Lockdown immer weiter zu verlängern.
Zu Beginn der dritten Welle Anfang März die gleiche Situation: Die Bundeskanzlerin plädierte für verschärfte Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren. Mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten war das jedoch nicht zu machen.
Das Ergebnis nach stundenlangen Verhandlungen und Sitzungsunterbrechung war mitten in der Nacht eine unverbindliche „Kann-Regelung“, die diese Regeln bei Inzidenzen über 100 als mögliche Maßnahmen aufführte.
Was danach geschah kann man wirklich kein Ruhmesblatt für die Bundesländer bezeichnen!
Nehmen wir Thüringen, das Bundesland mit dem seit Wochen höchsten Infektionsgeschehen bundesweit. Trotzdem gönnte man sich über die Osterfeiertage eine Lockerung der Kontaktbeschränkungen. Statt ein Haushalt plus eine weitere Person – wie es für Inzidenzen über 100 vorgesehen ist – waren private Treffen mit zwei Haushalten und bis zu fünf Personen zulässig. Das gleiche in Baden-Württemberg, Hessen und Mecklenburg-Vorpommern.
Aber nicht nur über die Osterfeiertage sind die Länder von der Notbremse abgewichen, sondern auch generell: Auf der Homepage des Bremer Senats heißt es heute zu den Kontaktbeschränkungen wortwörtlich: Private Feiern mit 5 Personen aus 2 Haushalten – und wohlgemerkt das bei einer Inzidenz von 170!
Diese Aufzählung ließe sich jetzt beliebig weiter fortsetzen. Und ja, darunter befinden sich dann auch CDU-geführte Bundesländer, wie Sachsen oder das Saarland, mit aus meiner Sicht sehr fragwürdigen Regelungen.
Aber das ist hier weniger eine Frage des Parteibuchs als vielmehr ein Kollektivversagen der Bundesländer, die es kaum schaffen, sich in den Verhandlungen mit dem Bund auf gemeinsame Regeln zu verständigen und selbst den kleinsten gemeinsamen Nenner dann noch nicht einmal konsequent umsetzen.
Ich weiß: Es klingt immer sehr nach Eigenlob. Aber wenn sich alle Bundesländer so verhalten würden wie Schleswig-Holstein, dann bräuchte es jetzt keine Änderung des Bundesinfektionsschutzgesetzes.
Wir haben nämlich bei einer Inzidenz von 100 sofort die Notbremse gezogen, wir haben die Kontaktbeschränkungen verschärft und das auch über die Osterfeiertage, haben den Einzelhandel wieder auf Click & Collect heruntergefahren und Schülerinnen und Schüler wieder in den Distanzunterricht geschickt.
Und bei einer Inzidenz von 200 haben wir in Flensburg nicht nur eine Ausgangssperre von 21 Uhr abends bis 5 Uhr morgens verhängt, sondern auch ein generelles Kontaktverbot über den eigenen Haushalt hinaus - und das rund um die Uhr sowohl für drinnen als auch für draußen. Wir haben also deutlich schärfer eingegriffen, als es jetzt mit der bundesweiten Notbremse vorgesehen ist.
Dass wir in Schleswig-Holstein die niedrigsten Infektionszahlen fast über die gesamte Dauer der Pandemie aufweisen, mag am Anfang vielleicht Glück gewesen sein, weil sich das Virus damals vom Süden her ausgebreitet hat.
Jetzt in der dritten Welle muss es aber andere Gründe haben, denn die Mutation war auch schon sehr früh in Dänemark - und dann ja auch bei uns in Flensburg vorhanden. Vielleicht liegt es daran, dass in Schleswig-Holstein der Wind stärker weht oder wir Norddeutschen etwas weniger kontaktfreudig sind.
Ich bin aber fest davon überzeugt, dass das Erfolgsrezept gerade auch im konsequenten Handeln unserer Landesregierung besteht!
Was die anderen Bundesländer machen, ist deshalb mehr als unsolidarisch: Es schadet zuallererst den Menschen, die an COVID-19 erkranken. Aber es schadet auch uns allen, weil wir die Infektionszahlen so nicht in den Griff bekommen und sich die Einschränkungen des Lockdowns dadurch unendlich verlängern.
Das wiederum kostet Monat für Monat Milliarden an Nothilfen, für die der Bund weitgehend allein aufkommt. Die Staatsverschuldung wächst immer weiter und belastet zukünftige Generationen. Auch unter diesem Aspekt ist es deshalb nachvollziehbar, dass es sich der Bund nicht länger gefallen lässt, für das Unvermögen mancher Bundesländer die finanziellen Folgen tragen zu müssen.
Meine Damen und Herren, eine bundesweit einheitliche gesetzliche Regelung der Notbremse bei hohen Infektionszahlen ist deshalb notwendig und richtig, wenn man sich die Entwicklung der letzten Monate vor Augen führt.
Strittig war deshalb auch weniger die Frage, „ob“ es zu einer solchen Änderung des Infektionsschutzgesetzes kommt, sondern strittig war vor allem die Frage des „Wie“, also der gesetzlichen Ausgestaltung der Notbremse.
Dabei war deutlich zu merken, dass es dem Bund an Formulierungserfahrung fehlt, die wir als Länder in den letzten 12 Monaten bei unseren Corona-Verordnungen in vielen Detailfragen gesammelt haben.
So fehlten im ersten Gesetzentwurf bei den Geschäften des täglichen Bedarfs noch die Babyfachmärkte, Sanitätshäuser, Optiker und Hörakustiker sowie Tierfuttermärkte, die allesamt mit dem Kabinettsbeschluss noch aufgenommen wurden.
Bei den Kultur- und Freizeiteinrichtungen wurden mit diesem zweiten Entwurf die Autokinos, Museen, Gedenkstätten sowie zoologische und botanische Gärten von der Notbremse ausgenommen. Auch das sind alles Punkte, die wir aus den eigenen Diskussionen der letzten Monate kennen, die jeweils zu unseren ersten Öffnungsschritten gehörten und deshalb jetzt richtigerweise auch im Falle einer Notbremse nicht geschlossen werden.
Als dritte wichtige Änderung zwischen erstem Gesetzesentwurf und der Fassung des Kabinettsbeschlusses will ich das Beherbergungsverbot für Menschen aus Landkreisen mit einer Inzidenz über 100 nennen. Dieses war zunächst vorgesehen, ist aber wieder gestrichen worden, so dass die touristischen Modellprojekte in Schleswig-Holstein überhaupt nicht mehr tangiert sind. Sie können wie geplant starten und sind ja ohnehin nur zulässig, wenn die Inzidenz vor Ort unter 100 liegt.
Der Gesetzentwurf ist also im Laufe des Verfahrens besser geworden, wozu sicherlich auch die Hinweise aus Schleswig-Holstein beigetragen haben. Er ist aber nach wie vor nicht perfekt.
Ein großes Manko war bis gestern die vorgesehene komplette Schließung des Einzelhandels beim Ziehen der Notbremse.
In Schleswig-Holstein haben wir bewiesen, dass der Einzelhandel kein Infektionstreiber ist. Seit dem 8. März ist der Einzelhandel bei uns im Land geöffnet und selbst die Kreise, in denen das bis heute ununterbrochen und uneingeschränkt der Fall ist, selbst diese Kreise weisen kein dramatisch erhöhtes Infektionsgeschehen auf.
Deshalb begrüße ich sehr, dass sich die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und SPD gestern auf das verständigt haben, was wir aus Schleswig-Holstein gefordert haben:
Nämlich dem Einzelhandel bei einer Inzidenz von über 100 die kontaktlose Abholung von vorbestellen Waren – also Click & Collect – zu ermöglichen und außerdem bis zu einer Inzidenz von 150 negativ getesteten Kunden weiterhin den Zutritt zu den Geschäften zu erlauben.
Im MPK-Beschluss aus dem März hieß es, dass verstärkte Testungen einen Baustein darstellen sollen, um mehr Normalität und sichere Kontakte zu ermöglichen. Deshalb ist es nur folgerichtig und konsequent, negative Testergebnisse dann auch als Öffnungsoption heranzuziehen und davon im Einzelhandel Gebrauch zu machen.
An dieser Stelle somit ein Haken hinter dem geänderten Gesetzentwurf.
Zweiter großer Kritikpunkt waren bzw. sind die Ausgangsbeschränkungen.
Ein pauschaler Einsatz bei Inzidenzen von 100 erscheint hier genauso unverhältnismäßig, wie es die komplette Schließung des Einzelhandels gewesen wäre.
Die mit der gestrigen Änderung vorgesehene Verschiebung der Uhrzeit von 21 auf 22 Uhr und die Ausnahme für körperliche Bewegung sogar bis 24 Uhr ändert an dieser Einschätzung wenig.
Es bleibt nämlich dabei, dass dieser massive Eingriff in Freiheitsrechte an dem zu niedrigen Schwellenwert von 100 ansetzt und das selbst dann, wenn ein klar abgrenzbares Infektionscluster vorliegt, also z.B. eine Betriebsstätte oder eine Wohnunterkunft.
Trotzdem müsste nach dem vorliegenden Gesetzentwurf eine Ausgangssperre für den gesamten Kreis verhängt werden. Das ist überhaupt nicht einzusehen.
Bei uns in Schleswig-Holstein haben wir zu diesem Instrument wie gesagt erst bei einer Inzidenz von 200 gegriffen, und zwar bei einem diffusen Infektionsgeschehen, so wie es sich damals in Flensburg darstellte. Für solche Fälle halte ich Ausgangssperren auch zukünftig für absolut angebracht, das will ich hier ausdrücklich sagen.
Wenn Christian Lindner fordert, anstelle einer Ausgangssperre die Kontaktbeschränkungen strenger zu kontrollieren, dann muss man sich ja schon fragen, wie das denn geschehen soll?
Sicherlich nicht durch anlasslose Polizeikontrollen in privaten Wohnungen, um zu überprüfen, ob sich dort nur die Mitglieder eines Haushaltes plus maximal eine fremde Person aufhalten.
Der Vorteil bei Ausgangsbeschränkungen besteht demgegenüber darin, dass die Kontrollen im öffentlichen Bereich stattfinden, also den Schutz der privaten Wohnung nicht verletzen. Trotzdem können damit private Treffen unterbunden werden, da die Gäste nach dem gemeinsamen Abend ansonsten nicht mehr nach Hause kommen. Eine Ausgangssperre ermöglicht also indirekt eine Kontrolle der Kontaktbeschränkungen im privaten Bereich und genau dort liegt ja erwiesenermaßen die Hauptinfektionsquelle.
Auch dazu noch einmal der Blick in die anderen Bundesländer: In Thüringen mit einer landesweiten Inzidenz von derzeit 250 gelten keine Ausgangsbeschränkungen. Selbst im Landkreis Sonneberg, mit der höchsten Inzidenz bundesweit, ist das nicht der Fall.
Mit der neuesten Allgemeinverfügung vom 16. April, also vom vergangenen Freitag, wird dort gerade einmal das Singen, der Instrumentalunterricht sowie der Sport- und Schwimmunterricht in geschlossenen Räumen untersagt – was ja voraussetzt, dass überhaupt Präsenzunterricht an den Schulen stattfindet. Wortwörtlich heißt es dazu in der Pressemitteilung „diese Allgemeinverfügung sei als moderate Erstmaßnahme zu verstehen“ – und dass bei einer Inzidenz von über 400!
An der Stelle merkt man schon sehr deutlich, weshalb es einer bundesgesetzlichen Regelung bedarf, die für solche Hotspots auch Ausgangsbeschränkungen beinhalten sollte.
Eine pauschale Ausgangssperre ab einer Inzidenz von 100 führt dagegen dazu, dass diese mit Inkrafttreten des Gesetzes flächendeckend fast für das gesamte Bundesgebiet gilt. Das wiederum gefährdet in erheblichem Maße die Akzeptanz der Corona-Maßnahmen in der Bevölkerung.
Deswegen wäre es besser gewesen, wenn sich der Bundesgesetzgeber auch an dieser Stelle ein Beispiel an Schleswig-Holstein nehmen würde und das Instrument der Ausgangssperre auf Hotspots mit sehr hohem und vor allem diffusen Infektionsgeschehen begrenzen würde.
Dritter wesentlicher Kritikpunkt ist die enthaltene Verordnungsermächtigung für die Bundesregierung. Zwar sind diese zukünftigen Verordnungen an die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat geknüpft. Sie können also nicht mal einfach so vom Bund erlassen werden. Dennoch ist es ein wesentlicher Unterschied zum jetzigen Gesetzgebungsverfahren, wenn die Bundesregierung mit eigenen Verordnungen eingreifen kann.
Wir hätten dann zukünftig ein Nebeneinander von Bundes- und Landesverordnung. Dadurch kann es zu Überschneidungen und Widersprüchen mit der Landesverordnung kommen, die das komplizierte Regelwerk dann noch schwerer verständlich machen als es jetzt ohnehin schon ist – zumal die Bundesverordnung immer Vorrang hätte.
Das ist nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger unübersichtlich, sondern stellt auch die Landesregierung vor besondere Herausforderung, weil die Landesverordnung immer wieder an Bestimmungen der Bundesverordnung angepasst werden muss.
Alles in allem also kein Gesetzentwurf der unsere uneingeschränkte Zustimmung erhält. Gleichwohl gilt es am Donnerstag, im Bundesrat eine Entscheidung zu treffen.
Es gilt abzuwägen zwischen den Vorteilen auf der einen Seite, die das konsequente Ziehen der Notbremse per Bundesgesetz in allen Bundesländern für das Infektionsgeschehen mit sich bringt.
Schließlich haben wir im Laufe des letzten Jahres oft genug beklagt, dass sich die Länder nicht an die Verabredungen der Ministerpräsidentenkonferenz gehalten haben.
Auf der anderen Seite stehen die Nachteile des Gesetzentwurfes, die ich insbesondere hinsichtlich der Ausgangssperren und der Verordnungsermächtigung beschrieben habe, die aber auch in der alleinigen Orientierung am Inzidenzwert bestehen, anstatt weitere Kriterien heranzuziehen, so wie wir das in Schleswig-Holstein mit dem dynamischen Faktor tun.
In Summe kommen meine Fraktion und ich dennoch zu dem Ergebnis, dass die Vorteile überwiegen, weshalb aus unserer Sicht eine Zustimmung trotz aller Kritik möglich wäre.
Da wir hierzu unterschiedliche Auffassung in der Koalition haben, würde dies im Falle eines zustimmungspflichtigen Gesetzes auf die Enthaltung Schleswig-Holsteins hinauslaufen.
Die bei einem Einspruchsgesetz denkbare Anrufung des Vermittlungsausschusses wiederum ist aus unserer Sicht deshalb nicht angebracht, weil angesichts der steigenden Infektionszahlen bundesweit schnelles Handeln erforderlich ist. Weitere Verzögerung darf es dabei nicht geben, weshalb wir auch von dieser Möglichkeit als Koalition absehen werden.
Meine Damen und Herren, wir können froh sein, dass wir in Schleswig-Holstein die Pandemie vergleichsweise gut im Griff haben.
Das hat uns im Februar die Öffnung von Schulen und Kitas ermöglicht. Im März konnten wir den Einzelhandel wieder weitgehend öffnen und jetzt im April die Außengastronomie wieder zulassen.
In dieser Woche sind zudem die ersten Modellprojekte im Tourismus, in Sport und Kultur gestartet. All das gibt Hoffnung, eröffnet Perspektiven und lässt uns einem normalen Leben ohne Beeinträchtigungen durch Corona ein Stück näherkommen.
All das hängt aber auch davon ab, wie sich das Infektionsgeschehen bundesweit entwickelt. Wir sind keine Insel, wir sind davon nicht abgekoppelt, sondern steigende Werte bundesweit führen zeitversetzt auch bei uns in Schleswig-Holstein zu mehr Infektionen, was dann wiederum die vorgenommenen Öffnungsschritte gefährden würde.
Deswegen ist es auch in unserem schleswig-holsteinischen Interesse, wenn die Notbremse jetzt bundesweit durchgesetzt wird.
Es gilt die nächsten Wochen zu überstehen, denn gleichzeitig kommen wir beim Impfen immer besser voran. Anstelle von „Impf-Desaster“ liest man in den Medien immer mehr vom „Impf-Turbo“, den Deutschland eingeschaltet hat. Fast täglich werden neue Rekordwerte bei den Impfungen vermeldet, so dass die angestrebte Herdenimmunität bis zum Sommer erreichbar scheint.
Wir haben es also fast geschafft, dürfen jetzt aber in unseren Anstrengungen auch nicht nachlassen. Dafür sollte Schleswig-Holstein weiterhin bundesweites Vorbild sein.
Herzlichen Dank!
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Max Schmachtenberg
Düsternbrooker Weg 70, Landeshaus, 24105 Kiel